Kurzgeschichte

Kurzgeschichte
„Ein letztes Wiedersehen“

Download als PDF

Erzählung von Stephan Knösel

Seine Nummer zu finden war einfach, sie stand immer noch im Telefonbuch. Ritchie war der erste, den ich nach der Untersuchung anrief. Er war der beste Leichtathlet in unserem Jahrgang gewesen. In der Elften schaffte er die 100 Meter in zehn komma neun Sekunden und im Weitsprung fast sieben Meter – und das, obwohl er zwei Schachteln am Tag rauchte und erst ab der Pause wieder einigermaßen nüchtern war.

Die Alkoholfahne, die er morgens mit ins Klassenzimmer trug, war aber nur ein Grund, warum er alleine saß. Ritchie war seit der fünften Klasse ein Außenseiter – seit der ersten Schwimmstunde, als wir Jungs in der Umkleidekabine seine Muskeln sahen, seine Schambehaarung und seinen Schwanz, der um ein Mehrfaches größer war als die unseren. Also nannten wir ihn Das Monster, und unser seelisches Gleichgewicht war wieder einigermaßen hergestellt.

Den Mädchen in unserer Klasse war Ritchie vor allem suspekt, weil er bayrisch redete. Bayrisch redeten an unserer Schule nur Proleten, und davon gab es nicht viele. Schließlich war unser Gymnasium eins der fünfundzwanzig besten – in Bayern. Doch Ritchie benahm sich nicht nur wie ein Prolet, er wollte auch einer sein. Er war stolz darauf, dass er in Landshut geboren war, dass sein Vater bei der Bahn arbeitete, dass er Mitglied war beim ESV Neuaubing, dem Eisenbahner Sportverein, und dass er mit seinen Eltern in einer der Eisenbahnerwohnungen an der Limesstraße wohnte.

Und wer auf sowas auch noch stolz war, war an unserer Schule einfach draußen.

In der zehnten Klasse bekam ich die Rechnung für meine Hochnäsigkeit. Ich war nun selber ein Aubinger, wie bei uns die Fahrschüler genannt wurden, die jeden morgen per Bus oder S-Bahn aus Westkreuz-Neuaubing ins beschauliche Gräfelfing zur Schule pendelten. Es war eine enorme Umstellung für mich. Ich war zwar, zu meinem Bedauern, nie einer dieser Lacoste tragenden Gräfelfinger Tennisspieler gewesen, aber immerhin ein Gräfelfinger. Und nun war ich die soziale Leiter hinunter gerissen worden und stand auf einmal, wie Ritchie, ganz unten in der Klassenhierarchie. Ich gehörte nicht mehr dazu, und das ließ man mich spüren, anfangs vielleicht noch mit einem kurzen Bedauern im Blick, aber mit der Zeit wurde ich genauso übersehen wie Ritchie.

Nur machte ihm das, im Gegensatz zu mir, nichts aus. Die Verachtung der anderen schien für ihn sogar eine Auszeichnung zu sein, die er mit großem Stolz entgegen nahm. Es war mir damals ein Rätsel, wie er das machte, aber es dauerte ein weiteres Jahr, bis ich ihn deswegen ansprach.

Wir fanden uns nach einem Theaterbesuch mit der Klasse spät am Abend im selben S-Bahn-Abteil wieder. Ritchie stand zwischen den Türen am einen Ende des Abteils, ich am anderen Ende. Ich vermied es, zu ihm rüber zu sehen. Ich spürte immer noch mein Herz schlagen und die Hitze in meinem Gesicht. Außer uns saßen noch zwei Mitschülerinnen in dem sonst menschenleeren Abteil. Wir hatten uns nach dem Einsteigen fast zeitgleich hingesetzt, auf gleicher Höhe, jeweils ans Fenster, nur vom Gang zwischen uns getrennt.

„Kannst du dich nicht woanders hinsetzen? Wir wollen uns unterhalten.“

„Lasst euch nicht stören.“

„Du störst aber!“

„Dann setzt ihr euch doch woanders hin,“ sagte ich. Aber das taten sie nicht. Statt dessen fingen sie an, sich über Hochwasserjeans, Tennissocken und No-Name-Turnschuhe zu unterhalten und wie armselig es war, wenn man nicht an der Klassenfahrt teilnehmen konnte, aber irgendwie auch ein Glück, für die anderen jedenfalls. Es war klar, dass sie mich damit meinten, und schließlich stand ich beschämt auf und wartete an der Tür, dass aus der Donnersberger Brücke Laim wurde und aus Laim endlich Pasing und dann Westkreuz.

Doch in Laim stieg dieser Typ zu, vielleicht vierzig, eher klein, stämmig. Er setzte sich direkt neben die Mädchen und er wartete höchstens eine Minute, bis er zur Sache kam. Er sagte ihnen, wie hübsch sie aussähen und wie sehr sie ihm gefielen. Die Mädchen antworteten nicht, sondern versuchten ihn zu ignorieren, indem sie sich weiter miteinander unterhielten, aber man konnte die Befangenheit in ihren Stimmen hören.

Und ihre Angst schien den Typen anzufeuern. Er legte seine Hand auf den Oberschenkel des einen Mädchens. Damit war ihr Gespräch beendet. Die beiden Mädchen wirkten wie fest gefroren. Es war unglaublich, wie forsch dieser Typ vorging, wie ein Irrer, dem egal war, was andere von ihm hielten – dem es gar nicht in den Sinn kam, sich darüber Gedanken zu machen. Es war faszinierend, abstoßend und eine große Genugtuung für mich, diesem Schauspiel beizuwohnen, aber dann – als der Typ die Mädchen aufforderte, in Pasing mit ihm auszusteigen – setzte sich Ritchie ihm gegenüber.

Er sagte dem Typen, er solle gehen, sofort. Ruhig, ohne zu drohen. Die Konsequenzen einer Weigerung musste Ritchie nicht aussprechen, man sah sie ihm an. Der Typ lächelte noch zwei, drei Sekunden lang, als müsste sein Gehirn das Gehörte erst verarbeiten. Dann stand er auf und setzte sich ans andere Ende des Abteils.

Ich wusste, dass Ritchie richtig und mutig gehandelt hatte, trotzdem war ich enttäuscht. Diese arroganten Zicken in ihren Burberry-Jacken, Rollkragenpullis und ihren Edwin-Jeans hätten eine Abreibung bekommen – keine gerechte, aber eine verdiente. Sie bedankten sich auch nicht bei Ritchie. Sie sagten gar nichts. Als wäre er ein Fremder, der nur zufällig neben ihnen saß. Und als wäre nichts passiert.

Als die S-Bahn wieder langsamer wurde, stand Ritchie auf. Weder er noch die Mädchen verabschiedeten sich. Ich dachte daran, ihnen zuzurufen, dass sie noch zwei Stationen fahren mussten, ohne uns, und der Typ immer noch im Abteil saß. Hatten sie das etwa vergessen? Na dann viel Spaß!

Aber auch dazu kam es nicht. Bevor die S-Bahn am Westkreuz anhielt, ging Ritchie ans Abteilende und sagte dem Typen, dass er jetzt auch aussteigen würde, und diesmal weigerte der Typ sich. Er versuchte es jedenfalls, bis Ritchie ihn an den Haaren packte und zur Tür und raus auf den Bahnsteig zog. Der Typ konnte gar nicht anders als ihm folgen. „Und jetzt schleich dich!“ sagte Ritchie, als er von ihm abließ.

Wir sahen ihm hinterher, wie er den Bahnsteig runter zum Ausgang ging, während die S-Bahn wieder losfuhr. „Und, zufrieden?“ sagte ich. „Rettest den Girls den Arsch, und sie bedanken sich nicht mal bei dir.“

Ritchie holte die Marlboros aus seiner Lederjacke und zündete sich eine Zigarette an.

„Ist dir das egal?“

„Dir anscheints ned,“ sagte er, dann sprang er auf die Gleise und nahm die Abkürzung runter zum Einkaufszentrum.

Seltsamerweise grüßten wir uns von da an in der Schule. Ich beobachtete Ritchie auch im Unterricht. Er war ein recht guter Schüler in fast allen Fächern, der sich meldete, wenn er etwas wusste, und auch meist die richtige Antwort parat hatte, wenn er aufgerufen wurde. Sein stoisches Bayrisch ließen ihm die Lehrer durchgehen, aber unsere Mitschüler machten sich immer noch gerne darüber lustig, vor allem im Englisch- oder Französischunterricht. Nur Yvonne und Bettina hielten sich seit dem Vorfall in der S-Bahn zurück.

Dann kamen die Weihnachtsferien, und am Vierundzwanzigsten sah ich Ritchie vorm Wienerwald stehen. Damals in den Achtzigern machten alle Geschäfte noch um Mittag zu, und ab zwölf war Neuaubing so gut wie tot. Der Wienerwald war das einzige Restaurant in der Nachbarschaft, das bis vierzehn Uhr geöffnet hatte. Sonst konnte man höchstens noch in eins der Bierstüberl fliehen, aber da ich meiner Mutter nicht begegnen wollte, kam das für mich nicht infrage.

Es war ein kalter, schneeloser Dezembertag mit einer grauweißen Wolkendecke, und unser Atem hatte die Farbe von Abgasen. „Kommst du gerade oder gehst du?“ fragte ich.

Ritchie deutete zum Straßenverkauf. „Ich wart, bis die Hendl fertig san.“

„Wollen wir ein Bier trinken?“

„Die brauchn nimmer lang.“

„Drinnen kann man auch warten. Ist wärmer.“

Die Gaststube war voll besetzt und verraucht, es war laut, und es roch nach Bier und Essen. Wir hatten Glück und fanden einen Tisch, der gerade frei wurde. Als die Bedienung kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, warf Ritchie einen Blick in seinen Geldbeutel. „Ich geb einen aus,“ sagte ich.

„Ich kann selber zahlen.“

„Ich geb trotzdem einen aus, wenn du magst.“

„Wollts ihr jetzt was trinken oder ned?“

„Zwei Helle,“ sagte ich.

Die Bedienung machte sich eine Notiz und ging wieder.

„Warum hast du das gemacht? Damals in der S-Bahn. Der Typ, der Yvonne und Bettina angegrabscht hat.“

„Warum ich dene gholfn hab? Mei, darum halt.“

„Das glaub ich nicht. Man macht nichts, ohne dass man will, dass dabei was rauskommt.“

„Und warum hast du di dann glei bei dene highockt? Hast du denkt, die redn mit dir? Auf amal. Bloß weils ned am Schulhof san.“

„Vielleicht.“

„Und? Wars dir lieber gwesn, die warn vergewaltigt wordn?“

„Tränen hätt ich deswegen nicht vergossen.“

„Hättst du zugschaut?“

„Das vielleicht nicht, aber…“

„Du hättst ihnen auch gholfn. Bloß a bisserl später vielleicht.“

„Hast du keinen Hass auf die? Ich mein, die haben sich nicht mal bedankt bei dir!“

„Mei, so sans halt. Die Weiber.“

„Hoffentlich nicht alle.“

Er lachte. „Hoffentlich ned.“

Wir blieben bis kurz vor zwei. Ich zahlte, Ritchie holte zwei halbe Hendl und zwei Kartoffelsalat im Straßenverkauf, dann gingen wir zu unseren Fahrrädern.

„Was wird das, euer Weihnachtsbraten?“

Ritchie hängte die Tüte mit dem Wienerwald-Emblem über den Lenker und sperrte sein Schloss auf. „Dies Jahr scho.“

Nach den Weihnachtsferien rauchten wir gemeinsam unsere Pausenzigaretten, hinter dem Stromhäuschen an den Fahrradständern, wo der Wald anfing. Man konnte die Autobahn hören, aber vor den anderen hatte man seine Ruhe dort.

Unsere Gespräche gingen selten ins Persönliche. Als ich ihn fragte, wie Weihnachten bei ihm war, sagte er „Passt scho!“ und das war’s. Über sein Zuhause redete Ritchie nicht. Also redeten wir montags über die Fußballergebnisse vom Wochenende, ansonsten über den Unterricht und die Lehrer, und wenn eine Schulaufgabe anstand, fragten wir uns gegenseitig ab. Das einzig Private, das ich von ihm erfuhr, war dass er nach der Schule zur Bundeswehr wollte, in eine Sportkompanie.

„Als Kettenraucher, oder was? Wusste gar nicht, dass das olympisch ist. Die lachen sich doch kaputt, wenn sie dich sehen!“ Ritchie trug inzwischen einen Schnauzbart und eine buschige Dauerwelle, die ihm vorne über die Augenbrauen ging und hinten bis zu den Schulterblättern.

„Was willstn du beim Barras machn?“

„Weiß noch nicht, ob ich da überhaupt hingeh.“

„Tätst aber endlich was Gscheits zum Anziehn kriegn!“

„Sehr witzig.“ Ich war im letzten Jahr fünfzehn Zentimeter gewachsen und inzwischen über eins neunzig groß, bei gerade mal siebzig Kilogramm. Meine Hosen hatten Hochwasser und schlabberten im Bund, und morgens vorm Spiegel fragte ich mich oft, ob ich jemals ein Mädchen abkriegen würde. Aber es war okay, wenn Ritchie sich darüber lustig machte. Bei anderen Mitschülern dagegen reichte nur ein Blick, und mein Tag war gelaufen.

Ritchie und ich verbrachten mehr und mehr Zeit miteinander an der Schule. Im Physik- und im Biologiesaal saßen wir inzwischen nebeneinander. Trotzdem begann unsere Freundschaft, sofern man sie so nennen konnte, erst in den Osterferien. Unsere Gespräche waren mir abgegangen und die paar Minuten Nicht-Allein-Sein in den Pausen und die vier Stunden Bio und Physik pro Woche.

Ritchies Nummer stand im Telefonbuch. Ich rief ihn am Ostermontag an, nachdem ich die zweite Tiefkühlpizza intus hatte, und fragte ihn, ob er Lust hätte, ins Kino zu gehen, in City Cobra, wir waren beide große Stallone-Fans. Ritchie sagte, okay, morgen hätte er Zeit.

In den Pfingstferien rief auch Ritchie gelegentlich an. Wir gingen ins Kino, manchmal auch in die Disko – damals hieß das noch so – ins Moonlight, weil da Kleidung keine Rolle spielte, Hauptsache man bezahlte seinen Eintritt. Doch wir trafen uns immer nur abends und nie bei einem von uns Zuhause, und es gab immer einen Tag dazwischen, bevor wir uns wiedersahen. Es war wie eine unausgesprochene Abmachung.

Ich brach sie nach einem unserer Moonlight-Abende, an dem Ritchie nach stundenlangem Hinreden endlich ein Mädchen abgeschleppt und mich mit ihrer Freundin hatte sitzen lassen.

„Wie ist es gelaufen?“ fragte ich.

„Gut.“

„Gut?“

„Und bei dir?“

„Ja – vielen Dank, dass du mich mit der allein gelassen hast!“

„Die hat doch ned schlecht ausgschaut.“

„Dann brauch ich wohl ’ne neue Brille. Was machst’n du heut Abend, schon was vor?“

„Der Vater hat Nachtschicht. Ich kann ned weg.“

„Und warum nicht?“

„Wegen meiner Mutter.“

„Ich könnt zu dir kommen. Ich bring ein paar Bier mit.“

Ich rechnete schon mit einem Nein, doch dann sagte er, okay, und zwei Stunden später stand ich bei ihm vor der Tür und klingelte.

Wir setzten uns auf den Balkon. Die Sonne schien noch, und ein paar Jungs spielten Fussball auf der Wiese vor dem Haus. Ich gab Ritchie ein Bier, machte eins für mich auf, stellte den Rest auf den Plastiktisch. Ich fragte mehr aus Neugierde, nicht aus Höflichkeit: „Soll ich deiner Mutter nicht Grüß Gott sagen?“

Ritchie musterte mich mit seinen schwarzen Augen. „Ihr geht’s ned bsonders.“

„Ich mein ja nur. Weil ich bei euch zu Besuch bin.“

Ritchie trank sein Bier aus und stellte die Dose unter den Tisch. „Dann kimm.“ Er stand auf und ging voraus ins Wohnzimmer mit der dunklen Schrankwand im Landhausstil, der grünen Sofakombination aus den Siebzigern und dem großen Glasaschenbecher auf dem aufgeräumten Couchtisch.

Ich folgte Ritchie in den Flur, wo er neben der Garderobe stehen blieb. Er machte eine Tür auf und dahinter lag eine andere Welt. Der Teppich war rausgerissen, das Fenster stand offen, aber das Zimmer roch trotzdem. Es roch nach Mensch, aber nicht gut, und darüber lag der Geruch von Medizin, und über allem, und nutzlos, der Geruch von Reinigungsmitteln.

In der Mitte des Zimmers, auf einem Krankenhausbett, lag Ritchies Mutter. Ein kleines Radio war an, leise, es stand auf der Ablage des Betts; neben dem Jesuskreuz, dem Wecker, den zwei Familienfotos.

Ritchie sagte: „Mama. Das ist der Robert. Er mag dir Grüß Gott sagen.“ Er ging an ihre Seite, strich über das Bettlaken.

Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wollte nur wieder raus aus dem Zimmer – und ich fing an zu schwitzen, als ich Ritchies Mutter hörte. Was für eine Stimme! So leise wie das Radio und genauso unwirklich in diesem Zimmer. Sie sagte, sie hätte Schmerzen, große Schmerzen.

„Ja, Mama.“ antwortete Ritchie.

Sie bewegte ihren Kopf in seine Richtung. Ihr schwarzes Haar sah feucht aus. Es war kurz geschnitten, unordentlich. Die Haut in ihrem Gesicht war Wachs. Ihre Augen waren sehr groß, und glasig, den Blick mehr nach innen gerichtet als nach außen.

Und da war sie auf dem Foto neben ihrem Bett! Jung und stark, hübsch, mit Ritchie in ihren Armen – ein kleiner Junge, der ihr ähnlich sah.

„Grüß Gott,“ sagte ich schließlich, und ich war froh, als wir wieder auf dem Balkon saßen.

Ritchies Mutter hatte einen Gehirntumor, der festgestellt worden war, kurz bevor Ritchie in die fünfte Klasse kam. Die Ärzte gaben ihr ein Jahr damals, höchstens zwei. Aber Ritchies Mutter sagte ihnen, dass sie erst sterben könne, wenn ihr Sohn achtzehn wäre. Es war ihre Pflicht ihn großzuziehen, und das würde sie auch tun. Ich habe das bis heute nicht aus dem Kopf gekriegt: Da gab es diese Frau, die sich weigerte zu sterben.

Anfangs hatten Ritchie und sein Vater noch auf ein Wunder gehofft. Wunder gab es in der Krebsmedizin. Plötzlich bildete sich ein Tumor einfach zurück – und das Warum blieb unerklärlich. Aber es war wie das Hoffen auf einen Sechser im Lotto. Man wusste, irgendjemand würde ihn bekommen, aber jede Woche wusste man auch, dass man selber es nicht war.

Inzwischen befand sich Ritchies Mutter im Endstadium. Medizinisch konnte man nichts mehr für sie tun außer ihre Schmerzen lindern. Aber selbst das war nicht einfach, auch juristisch nicht, weil zu viel Morphium sie getötet hätte. Ihr einziger Trost war, dass sie Zuhause sterben durfte und ihr Ziel fast erreicht hatte.

Tagsüber, wenn Ritchie in der Schule und sein Vater in der Arbeit war, kümmerte sich eine Krankenschwester um Ritchies Mutter. Morgens, abends und nachts wechselten sich Vater und Sohn mit der Betreuung ab, das Telefon immer in Griffnähe, für den Notfall. Bei einem dieser Notfälle hatte ein Arzt Ritchie angeboten, seiner Mutter etwas mehr Morphium als nötig zu spritzen, wahrscheinlich hatte er es nur gut gemeint. Aber Ritchie prügelte ihn dafür aus der Wohnung.

Und er hatte niemandem von dieser Sache erzählt! Ich glaube, nicht einmal unsere Lehrer wussten etwas. Ich fand das erstaunlich. Die ganze Verachtung, die sich auf ihn entladen hatte seit der fünften Klasse – er hätte sie mit ein, zwei gut platzierten Sätzen beenden können. Er wäre nie Das Monster geworden, als das wir ihn beschimpft hatten – sondern einfach ein Mitschüler, mit dem man Mitleid hatte oder den man wenigstens in Ruhe ließ. Doch er hatte kein Mitleid gewollt – im Gegenteil, er suchte geradezu die Verachtung, als würde sie ihn aufladen, ihm Kraft geben.

Und ich hatte immer gedacht, ich hätte es schwer gehabt, seit mein Vater weg war und ich in einer kleinen Zweizimmerwohnung im elften Stock mit meiner Mutter lebte, die trank und ihre Freunde mit ihren Kneipen wechselte und gelegentlich einen halbherzigen Suizidversuch hinlegte. Es war einfach unglaublich. Während ein paar Straßen weiter eine andere Mutter unbedingt leben wollte und nicht durfte.

Es war mir immer noch ein Rätsel, wie Ritchie das ausgehalten hatte – mit dem Tod aufzuwachsen – aber er war mir jetzt kein Rätsel mehr. Sein Bayrisch, die sandfarbenen Cowboystiefel aus Wildleder, in die er seine Moonwashedjeans mit den weißen Seitenstreifen stopfte, der Schnauzbart, die geölte Dauerwelle: das war die Identität, die er gewählt hatte an unserer Lacoste-Benetton-Burberry-Schule, die Identität eines Außenseiters.

Am ersten Schultag nach den Ferien war Ritchie nüchtern und kaute Kaugummi statt zu rauchen. Ich fragte ihn, wie es seiner Mutter ginge. Sie sei gestern gestorben, sagte er, einen Monat vor seinem achtzehnten Geburtstag. Er wirkte gefasst, vielleicht sogar ein wenig erleichtert. Ich sagte ihm, dass es mir leid tat.

„Ein Monat! Kannst du dir des vorstelln?“ Er lachte leise. „Sie hätt’s eh nimmer checkt. Trotzdem hätt sie’s verdient ghabt.“

Ich nickte. Es hätte was Hollywoodmäßiges gehabt, das stimmt, ein versöhnliches Ende.

Bis zum Abitur saßen Ritchie und ich in den meisten Kursen nebeneinander. Wir rauchten weiterhin unsere Pausenzigaretten im Wald, fuhren zusammen zur Schule – bei gutem Wetter mit dem Fahrrad, bei schlechtem mit dem Bus. Aber abends trafen wir uns immer seltener. Ritchie hatte eine Freundin gefunden, die in der Kirche engagiert war und ihn nach der Beerdigung seiner Mutter zu einem Treffen der Pfarrjugend eingeladen hatte. Sie war nett, aber ich konnte nicht viel mit ihr anfangen, und ihr ging es ähnlich mit mir.

Nach der Schulzeit brach unser Kontakt ab. Mich verschlug es mit der Bundeswehr in den Bayrischen Wald, und nach den zwei Jahren studierte ich in Regensburg, wo ich auch meine Frau kennenlernte. Ich kam erst Anfang 2001 durch einen Jobwechsel wieder nach München, aber wir wohnten in der Au, gleich an der Isar, und Neuaubing betrat ich erst wieder nach der Untersuchung. Ritchie klang weder überrascht noch erfreut, mich nach zwanzig Jahren am anderen Ende der Leitung zu hören. Ich fragte ihn, ob wir uns treffen könnten, wenigstens für eine Stunde, es wäre wichtig für mich. In Ordnung, sagte er.

Der Wienerwald in der Limesstraße hieß mittlerweile Bayrisches Hendl- und Schnitzelhaus, und die Luft war besser, seit es das Rauchverbot in Gaststätten gab. Ansonsten hatte sich hier nichts verändert. Ich setzte mich an einen Tisch mit Blick auf den Eingang. Ritchie kam pünktlich, aber er hatte sich verändert, äußerlich auf jeden Fall: Er trug bequeme Lederschuhe, Khakihosen und ein gestreiftes Hemd unter einer Jack-Wolfskin-Fleecejacke. Seine Haare waren kurz geschnitten und, im Gegensatz zu meinen, ohne eine Spur Grau darin. Er sah eher aus wie Anfang statt Ende dreißig. Und der Schnurrbart war weg. Ich stand auf, um ihm die Hand zu geben – was wir früher nie getan hätten – und bemerkte seinen Ehering.

„Was gibt’s denn so Wichtiges?“ fragte er mit einem spöttischen Lächeln.

„Magst du was trinken? Ein Helles?“

Er nickte, und ich winkte der Bedienung am Tresen mit zwei gestreckten Fingern und deutete auf mein Bierglas. „Ich hab Krebs,“ sagte ich.

Ritchie musterte mich prüfend, wie um auszuschließen, dass ich ihn anlog. „Dann würd ich zum Arzt gehen,“ sagte er schließlich.

„Ich war beim Arzt. Sonst wüsst ich’s ja nicht.“

„Und was willst du von mir?“

Die Bedienung brachte uns zwei Helle. Ich wartete, bis sie wieder weg war. „Ich hab zwei Kinder,“ sagte ich. Die Große ist vier, der Kleine zweieinhalb. Hast du Kinder?“

„Nein.“

„Ich hab’s meiner Frau noch nicht gesagt. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

„Wie schlimm?“

„Die Chancen sind nicht gut.“

„Haben die Ärzte gesagt, es ist aussichtslos?“

„Nein.“

„Na also.“

„Ich will nicht, dass meine Kinder darunter leiden. Ich möcht ihnen nicht das Leben verbauen.“

Ritchie schüttelte den Kopf und lachte leise. „Du traust dich was, wirklich!“

„Ich muss dich das einfach fragen!“

„Glaubst du, deine Kinder haben es besser, wenn du jetzt Schluss machst?“

„Was meinst du?“

„Das kann ich dir nicht sagen.“ Er holte einen zerknitterten Fünf-Euro-Schein aus seiner Hosentasche und ließ ihn neben seinem Glas fallen.

„Warte! Wenn du an früher denkst – wie ist das für dich?“

„Ich denk nicht oft an früher. Früher ist vorbei.“

„Das glaub ich dir nicht.“

Er stand auf. „Was willst du von mir, Robert, meinen Rat? Okay. Dann bring dich um! Bist du jetzt zufrieden? Nein. Klar hätt ich mir gewünscht, es wär anders gekommen – dass meine Mutter es schafft! Aber sie hat’s nicht geschafft. Scheiße! Man kann sich das nicht aussuchen: Was wäre, wenn? Es kommt, wie’s kommt. Aber wie es kommt, weiß man erst, wenn’s vorbei ist. Und bis dahin – schafft man’s ja vielleicht doch. Hast du Angst vorm Sterben oder vorm Leben? Wer sagt dir, dass deine Kinder besser dran sind, wenn sie ohne Vater aufwachsen, als mit einem sterbenden Vater? Ich kann dir das nicht sagen. Weil ich nicht weiß, wie’s anders gewesen wär!“

„Bereust du, wie’s für dich gewesen ist?“

„Ich hab keine Wahl gehabt. Deswegen kann ich auch nichts bereuen. Die Entscheidung liegt bei dir. Und wenn du jetzt Schluss machst, kann’s genauso gut sein, dass deine Kinder dich mal für einen Feigling halten werden, weil du nicht gekämpft hast.“

„Du sprichst gar nicht mehr Bayrisch.“

„Wir sind auch nicht mehr an der Schule,“ sagte er. Dann zog er seine Fleecejacke an und machte den Reißverschluss zu.